Leseprobe Treffer ins Herz

Kapitel 1

Diesmal war er vollkommen fertig. Ob es am Wetter lag, dass er kaum noch Luft bekam? Gut, er war echt viel gerannt, doch er hatte nur in der zweiten Halbzeit gespielt, da sie aktuell nur einen Stürmer aufstellten. Joris warf sich die Trainingsjacke über die Schultern, um sich in dem kalten Wind nicht auch noch zu erkälten, und beugte sich kurz runter, die Hände auf die Knie gestützt, um zu Atem zu kommen.
„Alles klar, Alter?“
Er spürte, wie André ihm freundschaftlich auf die Schulter klopfte.
„Ja“, keuchte Joris. „Geht gleich wieder.“
„Du bist doch sonst konditionell nicht so schlecht aufgestellt“, wunderte sich sein Kumpel genau wie er selbst. „Wir haben überlegt, nachher den Abend bei uns ausklingen zu lassen.“
Joris richtete sich auf und hätte am liebsten die Augen verdreht. Seit André mit Malina zusammen war, hieß es nur noch wir und uns und fast überall schleppte sein Kumpel die Riesenbraut mit hin. „Dann viel Spaß dabei.“
„Komm mit uns. Ohne dich ist es doch nur halb so lustig“, versuchte André ihn zu überreden.
„Gut, ich komme auch vorbei.“ Dabei war es nicht seine Schuld, wenn es unlustig wurde. Wenn die sich immer alle nur paarweise trafen, war es halt einfach anders, als veranstaltete man einen gepflegten Männerabend. Zusätzlich wiesen sie ihn häufig zurecht, er konnte gar nichts mehr sagen. Ständig war es zu vulgär, versaut, unter der Gürtellinie. Halt die Klappe, Joris. Wie oft hatte er das in letzter Zeit gehört? Dabei war gerade André genau wie er gewesen. Genaugenommen hatte er den blonden Mittelfeldspieler sofort gemocht, als er ihn nach dem Umzug hierher kennengelernt hatte, und sich ihm ein wenig angepasst. Sie hatten sich blendend verstanden und dann hatte seine dämliche Schwester ihm das Kind aufgebrummt, er war zum verantwortungsbewussten Onkel mutiert und hatte Malina aufgegabelt. Ätzend.

Wie vermutet, waren es Jonas mit Sarah, Timo mit Jule und André mit Malina, die sich an diesem Abend trafen. Kurz fragte sich Joris, warum sie ihn überhaupt gefragt hatten, denn normalerweise blieben sie, wenn sie Pärchenabende veranstalteten, auch unter sich. Er ließ sich auf einem der Stühle nieder, da die Couch bereits belegt war.
Es wurde beim Lieferservice bestellt. Nachdenklich studierte er das Angebot auf dem Faltblatt, unentschlossen, ob ihm eher nach einer Pizza war oder vielleicht doch eher nach Nudeln oder gar einer Rolle.
„Boah Joris, du kennst die Karte doch schon auswendig, oder?“, motzte Sarah. Er sah auf und musterte die dunkelhaarige Zicke abschätzig. „Wir haben alle Hunger“, warf sie ihm ähnlich unfreundlich an den Kopf.
Er grinste ihr freudlos zu und übergab die Karte an Jule. Die war wenigstens immer nett. Die blonde Freundin von Timo war eh in Ordnung. Sie war ein Mädchen zum Pferdestehlen und sie motzte ihn nicht ständig ohne Grund an. Dazu war sie hübsch anzusehen, auch wenn er nicht unbedingt auf kurze Haare stand. Gut, mit Sarah kam hier keins der Mädels mit. Jonas Verlobte war ein echter Feger mit ihrer dunklen langen dicken Mähne, der seidigen Haut und der Bombenfigur. Aber sie war halt eine Zicke, wenn auch nur ihm gegenüber.
Sein Blick fiel auf die langweilige Malina. Meine Güte, war die Erzieherin riesig. Natürlich konnte sie nichts für ihre Körpergröße, aber wenn ihm eine Frau direkt in die Augen sah, war das überhaupt nicht Joris Fall, schließlich war er gut einen Meter achtzig groß. Okay, seit sie ihm und André das erste Mal über den Weg gelaufen war, hatte sie sich ein wenig verändert.
Ihre dunkelblonde Mähne wies mehr Schnitt und ein paar Strähnchen auf. Außerdem schminkte sie sich minimal, was vorher gar nicht der Fall gewesen war. Seit sie mit André ging, wirkte sie glücklicher und zufriedener als zuvor, zudem selbstbewusster. Joris seufzte. Malina konnte ihn noch viel weniger leiden, als Sarah. Die kurze Geschichte, die er mit ihrer besten Freundin gehabt hatte, hing ihm wahrscheinlich auf ewig nach.
„Sollen wir Susann auch fragen, ob sie und Merle etwas wollen?“, fragte die große Erzieherin plötzlich.
„Ja, das sollten wir vielleicht machen“, stimmte André nachdenklich zu.
Für den Moment hatte Joris nicht mehr daran gedacht: Andrés Schwester wohnte jetzt auch hier. „Ach, ich gucke zu lange, aber für Leute aus anderen Wohnungen ist noch Zeit?“
„Sei nicht so eine Mimose. Außerdem haben sie eine eigene Karte oben. Ich rufe sie an und frage“, erklärte Malina.
Auch wenn die anderen Joris alle für oberflächlich hielten, wusste er ganz genau, dass André bloß dafür war, weil er sich um seine kleine Schwester sorgte. Er zerbrach sich den Kopf darüber, ob sie Freunde hatte und ob sie allein war. Das konnte man ihm nicht verdenken, schließlich hatte sie versucht sich umzubringen. Seitdem war über ein Jahr vergangen, aber da der blonde Mittelfeldspieler, der von Beruf Maurer war, sie gefunden hatte, wurde er die Bilder ihres leblosen Körpers sicher so schnell nicht los.
Auf dem Weg von der Toilette zurück, hörte er Malina und André in der Küche miteinander sprechen. Sie war der Meinung, er sollte seine Schwester auch hier bei ihnen essen lassen, er war dagegen. Joris beschloss, die beiden zu unterbrechen. „Hey, wird geliefert oder holen wir ab?“
„Ich hol das gleich, das geht echt schneller“, meinte sein Kumpel abwesend.
„Kein Ding, ich mach das.“ Er wartete die Antwort nicht ab, sondern machte sich auf den Weg.
Scheinbar brachte ihm das Pluspunkte bei den Mädels ein, zumindest waren sie alle relativ handzahm, als er zurückkehrte. Und wo war jetzt die Irre von oben? Joris sah sich unauffällig um, doch bislang hatte sich an der Runde nichts verändert.
Als es klingelte, waren sie alle mit dem Verteilen des Essens beschäftigt. „Ich geh hin“, bot er an und drehte schon um. Immerhin stand er am dichtesten an der Tür zum Flur. Und außerdem hatte er Andrés Schwester noch kein einziges Mal zu Gesicht bekommen und war der Meinung, dass es langsam Zeit wurde.
Vor der Wohnungstür stand eine kleine Blondine mit strahlend blauen Augen, die denen ihres Bruders recht ähnlich waren, etwas heller vielleicht und vor allem hatten sie einen ganz anderen Ausdruck. Während Andrés meist verschmitzt und wachsam blitzten, wirkten diese hier verunsichert, ein wenig melancholisch und … ja, ein bisschen trüb.
„Hi, ich wollte nur schnell meine und Merles Pizza holen, dann bin ich schon wieder weg.“
Joris bemerkte, wie er sie immer noch musterte und mit ihrem Bruder verglich. Wie konnten sich Geschwister so ähnlich sehen und doch so unterschiedlich sein? „Du nimmst sie mit nach oben?“ Sie trug Leggins und ein weites Shirt mit langen eng anliegenden Ärmeln, das ihr bis zur Mitte des Oberschenkels reichte und hatte ihre dichten blonden Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Der Anblick ihrer ausgefransten Puschen an den Füßen entlockte ihm ein amüsiertes Schmunzeln.
„Ja, ich will euch nicht stören.“ Er ließ sie herein, schließlich war es draußen rattenkalt. „Könntest du sie mir holen? Ich möchte gar nicht ganz reinkommen. Wir haben die Achtzehn.“
„Hmm, Scampi und Knoblauch, warte.“ Doch er ging nicht sofort. Ihr merkwürdiger Blick hielt ihn auf. „Was ist?“
Sie schmunzelte. „Kennst du die Karte auswendig?“
„Das sag mal lieber nicht den anderen, sonst bin ich ganz unten durch“, grinste er und ging, um die Pizza zu holen, während sie ihm verständnislos hinterher sah.
Sie stand im Flur und sah auf ihre Füße, als er mit der Schachtel in der Hand wieder um die Ecke kam. Doch als sie ihn hörte, sah sie auf. „Welcher von den Deichkickern bist du?“
„Joris. Stürmer“, stellte er sich mit einem Nicken vor. Er war sich nicht sicher, ob ihr das etwas sagte. „Wie war dein Name noch?“
Sie stutzte. „Susann. Wer kriegt das Geld für die Pizza?“
„Niemand. Guten Appetit.“
Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, in der sie einen Fünfer und ein paar Geldstücke hielt. „Hier, gib es André. Ich möchte nicht, dass er mein Essen bezahlt.“
Joris wich ihrem Arm aus. „Da mische ich mich nicht ein.“
Sie warf das Geld auf die Kommode und verschwand eilig durch die Tür. Belustigt sah er ihr nach. Irgendwie hatte er sie sich ganz anders vorgestellt. Vor allem nicht so klein und … ja, mädchenhaft. Sie sah überhaupt nicht aus, wie man sich eine Mutter vorstellte. Und gingen Frauen nicht immer auseinander, wenn sie Kinder bekamen?
Das Geld nahm er an sich und drückte es seinem Kumpel in die Hand. „Sie wollte unbedingt bezahlen.“
Genervt seufzte der Gastgeber und steckte das Geld ein.
„Hey, stell doch ein Sparschwein für deine Nichte auf und steck solche Sachen da rein, falls das öfter vorkommt.“
Überrascht richteten sich die Augen der Anwesenden auf Joris und André fand die Idee so gut, dass er das Geld sofort wieder aus seiner Hosentasche zog und in ein Glas steckte, welches er ins Regal stellte, bis er ein Schwein besorgt hatte.

„Kommst du heute Abend auch zu Alexa?“
Gerade hatte Susann noch konzentriert auf ihren Bildschirm gestarrt, der die Auswertung anzeigte, die sie mühselig erarbeitet und nun fertig hatte. „Ich kann nicht. Ich hab doch Merle“, sagte sie ohne einen Ton des Bedauerns in der Stimme.
„Kann dein Bruder nicht auf sie aufpassen?“, nörgelte ihre Kollegin Jessica, deren Armreifen klapperten, während sie ihre Tasche packte.
Ein Lächeln huschte über Susanns Gesicht. André passte ziemlich oft auf Merle auf und hatte an diesem Freitag selbst etwas vor. „Nein, er hat was Besonderes für seine Freundin geplant.“
„Eine Schande, dass er vergeben ist“, murmelte Jessica.
„Ich finde es wunderbar“, lächelte Susann hinter ihrem Bildschirm. Endlich war ihr Bruder in festen Händen und dabei so glücklich. Sie freute sich sehr für ihn und war froh, dass er es mittlerweile nicht mehr vorzog, allein zu leben. Dass ausgerechnet Malina sein Herz erobert hatte, fand sie zwar immer noch verwunderlich, doch letztlich musste sie ihm ja gefallen.
„Du hast Feierabend, schalte den Rechner aus“, ermahnte Jessica, die in Susanns Alter und in diesem Büro angestellt war, sie. Neben ihrer Kompetenz strahlte sie ein großes Selbstbewusstsein aus, und wusste die Leute nach ihrer Nase tanzen zu lassen. Ihre braunen Haare glänzten und waren stets sorgfältig gestylt, das Gesicht perfekt gepudert und die wichtigen Stellen betont.
Vielleicht war Susann spät dran mit ihrer Ausbildung, aber besser jetzt als gar nicht. „Ja, sofort.“ Sie musste nur noch einen Absatz lesen, dann konnte sie speichern und mit der Gewissheit ins Wochenende gehen, etwas abgeschlossen zu haben. Wenn sie sich nicht gerade mit Jessica verglich, hatte sie eigentlich ein ganz gutes Gefühl bei ihrer Ausbildung.

Bevor sie in ihre Wohnung hinaufging, klingelte Susann bei ihrem Bruder und seiner Freundin an der Tür. Es war Merle, die ihr öffnete.
Ihre Tochter strahlte sie an und zog sie in den Flur. „Du musst dir angucken, was André für Malina gekauft hat“, rief sie atemlos und lief voraus in die Küche, dass ihre blonden Locken nur so hinter ihr her wehten.
Wow. Auf dem Tisch stand ein wunderschöner Strauß mit Blumen und daneben lag ein Päckchen. Hatten die ihren Jahrestag? Nein. Das musste noch ein bisschen hin sein, oder? „Was hast du vor? Willst du ihr einen Antrag machen?“
André, der gerade in die Küche kam, blieb stehen und schüttelte irritiert den Kopf. „Findest du das nicht ein bisschen früh?“
Sie zuckte mit der Schulter. „So verliebt wie ihr seid, ist alles möglich.“
„Nein, nein, sie soll nur wissen, dass … na, dass …“
„Sie dir wichtig ist?“, vollendete sie seinen Satz und verdrehte die Augen über seine Unfähigkeit, seine Gefühle in Worte zu fassen.
„Genau. Wie war die Arbeit?“, lenkte er schnell vom Thema ab.
„Gut. Danke, dass du Merle abgeholt hast.“ Er war ihr wirklich eine große Hilfe und der perfekte Onkel. Lächelnd betrachtete sie ihren älteren Bruder, mit dem sie mittlerweile wieder beinahe normal reden und umgehen konnte. Genau wie sie und Merle war er blond und blauäugig. Nur seine Statur wich von ihrer eigenen ziemlich ab. Scheinbar hatte er alles an Größe und Kraft abbekommen, sodass für sie ein paar Jahre später nicht mehr viel übrig geblieben war. Sie trennten fast zwanzig Zentimeter und außerdem war Susann nur halb so breit.
Gott sei Dank verzieh er ihr langsam ihre Flucht vor sich selbst. Trotzdem bereute sie es nicht, dass sie Anfang letzten Jahres alle Zelte abgebrochen hatte. Natürlich konnte niemand verstehen, dass sie ihre Tochter einfach zurückgelassen und ausgerechnet ihrem Bruder anvertraut hatte. Doch hätte sie das nicht getan, hätte sie niemals diese Negativspirale durchbrochen, in der sie sich befunden hatte.
Klar, es war noch lange nicht gut, aber es ging ihr besser. Viel besser. Früher hatte sie Merles Anwesenheit kaum ertragen. Alles hatte sie genervt, dabei liebte sie ihr Kind von ganzem Herzen. Und genau deshalb war sie gegangen – und aus dem gleichen Grund zurückgekehrt. Für den Geschmack ihres Therapeuten ein wenig zu früh, doch mit der Unterstützung des jetzigen und der Veränderung ihres Alltags und ihrer Wohnsituation würde es schon gut werden. Hoffentlich überwand André irgendwann auch die leichte Distanziertheit, die er ihr nach wie vor entgegenbrachte.
Es gab Tage, da sah sie das nicht so positiv, doch heute war ein guter Tag. „Ich wünsche euch viel Spaß. Wir machen uns nachher Ohropax rein.“
Sie fing den amüsierten Blick ihres Bruders auf. „Das ist gut zu wissen“, meinte er zwinkernd. Er schnappte sich Merle. „So, meine Süße, dann ärgere die Mami nicht und vertreib ihr ein bisschen die Zeit, nicht dass ihr langweilig wird. Ich fahre jetzt, Malina abholen.“
Verwundert sah Susann auf. „Wo holst du sie denn her?“
„Von ihren Eltern. Ihr Auto ist in der Werkstatt.“

Glücklicherweise hatte Merle schon geschlafen, als André und Malina nach Hause gekommen waren. Es war nicht das erste Mal, dass Susann hörte, wie die beiden es trieben, allerdings war es noch nie so laut und ausdauernd gewesen. Vielleicht dachte ihr Bruder tatsächlich, sie hätte sich was in die Ohren gestöpselt. Sie besaß gar nichts in der Art. Alternativ griff sie nach ihrem Smartphone und den Kopfhörern, um etwas Musik zu hören.
Sie hätte auch gern einen Freund. Aber andererseits mochte Susann sich keinem Mann nähern. Sie vertraute immer den falschen Typen, das hatte schon Schema. Erst Merles Vater, danach war lange nichts passiert, doch dann waren es stets nur Kerle gewesen, die zwar mit ihr ins Bett wollten, und kurz darauf ganz plötzlich wieder aus ihrem Leben verschwanden. Keiner wollte eine Freundin mit Kind, außer für eine schnelle Nummer.
Und dann war ihr Robin über den Weg gelaufen und hatte ihr das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein. Gott, war sie verliebt gewesen, auch jetzt tat es noch manchmal weh, an ihn zu denken. Das war ziemlich paradox, wo er sie doch so verletzt und schwanger sitzen gelassen hatte. Nach wie vor quälte sie ihr schlechtes Gewissen, weil sie das Baby hatte abtreiben lassen, auch wenn es für alle die beste Entscheidung gewesen war. Mist, machte sie so weiter, versank sie gleich wieder im Selbstmitleid und konnte gar nicht mehr schlafen.

„Hast du gestern Viagra geschluckt oder was war los?“, erkundigte sich Susann am nächsten Vormittag beiläufig bei André, als er ihr vor dem Haus über den Weg lief.
Der prustete, sah sich dann jedoch suchend um und kam näher zu ihr ran. „Sorry, ich dachte, du wolltest dir was in die Ohren stecken.“
„Das war ein Scherz!“
Er schmunzelte, es war ihm nicht mal peinlich. „Hat man es … sehr gehört?“ Dann fiel ihm etwas ein und er fragte alarmiert, „hat Merle was mitgekriegt?“
Sollte sie ihn auf die Folter spannen? Sie zögerte einen Moment, jedoch nur kurz. „Nein, sie hat selig geschlafen. Normalerweise hört man mal ansatzweise was, aber gestern Nacht … das war … schon ein wenig anstrengend.“
„Stimmt, ich war fix und alle. Sag Malina nichts, ja? Sie würde nie wieder einen Ton sagen, wenn wir im Bett sind, und das wäre echt schade.“
Kopfschüttelnd betrachtete Susann ihren Bruder. Und eigentlich beneidete sie ihn um seine intakte Beziehung. Ausgerechnet er, der nie eine gewollt hatte, führte eine. Und sie? Sie wünschte sich jemanden an ihrer Seite und bekam einfach keinen vernünftigen Kerl ab.
„Willst du heute weggehen? Ich denke, wir bleiben hier“, bot André ihr seine Babysitterdienste an.
„Nein, schon gut. Ich wüsste nicht, wohin.“
„Gut.“ Das Lächeln, was sich auf seinem Mund ausbreitete, galt sicher nicht ihr, also drehte Susann sich um und sah Malina auf sie zukommen. Sie lächelte fröhlich und wirkte unglaublich entspannt. Kein Wunder.
„Hey, ihr. Hast du heute was vor, Susann?“
„Nein.“
„Wir könnten doch zusammen essen und einen Spieleabend machen oder so was“, schlug Merles ehemalige Erzieherin und derzeitige Lebensgefährtin ihres Bruders, vor.
André öffnete entsetzt den Mund. „Spieleabend?“
„Schon gut, du brauchst mich nicht einen ganzen Abend ertragen“, nahm Susann ihm sofort den Wind aus den Segeln. Denn schließlich war genau das sein Problem. Er war zwar nett zu ihr, doch richtig nah, wie Geschwister, waren sie sich nicht. Er tänzelte bloß um sie herum, wirklich befassen wollte er sich nicht mit ihr.

Ein Blick auf die Uhr verriet Susann, dass ihr Besuch auf sich warten ließ. Merle war bei André und wenn sie es richtig verstanden hatte, mit Malina zu deren Eltern gefahren. Was ihr Bruder tat, wusste sie nicht, denn eigentlich hielt auch er sich ganz gern bei seinen möglichen Schwiegereltern in spe auf.
Es klingelte. Susann ging zur Tür und betätigte den Summer, doch es kamen keine Geräusche, die vermuten ließen, dass die untere Tür geöffnet wurde. Sie drückte erneut und lief dann die mit beigem Teppich belegte Treppe hinunter, um die dunkle Holztür zu öffnen. Sie hätte sie beinahe wieder geschlossen, weil niemand davor stand, aber da hörte sie die Stimmen und trat ins Freie.
Sie schnappte empört nach Luft. „Was tust du da? Mick, komm rein.“ André hatte ihren Gast abgefangen und wollte ihn, so wie es aussah, verscheuchen.
Die ungläubigen Augen ihres Bruders bohrten sich in Susann, die ihren Bekannten passieren ließ. Sie schenkte André ein künstliches Lächeln und folgte Mick die Treppe rauf, nachdem sie die blöde Haustür kräftig hinter sich zugezogen hatte, weil sie klemmte.
Im Wohnzimmer ließ sie sich neben ihm auf die Couch fallen. „Sorry, keine Ahnung, was der für einen Auftrag hat. Was hat er zu dir gesagt?“
Der Cousin ihrer besten Freundin winkte ab. „Ach, der hat sich einfach aufgespielt, wollte wissen, wer ich bin und was ich bei dir klingele.“
Es war eher ein freudloses Lachen, welches Susann die Kehle hinaufstieg. „Es tut mir leid. Vielleicht sollte ich ihm mal stecken, was du schon alles für mich getan hast.“
Mick winkte ab. „Quatsch, soll der doch denken, was er will. Warum spielt er sich überhaupt so auf?“
„Großer Bruder halt.“
„Der hat sich sonst auch nicht drum geschert, was du machst.“
Susann überlegte. „Ich glaube, das hat er nicht mit Absicht gemacht.“ Das entlockte ihrem Gast ein Auflachen. „Doch, echt. Und jetzt versucht er, es besser zu machen.“
„Ein bisschen spät, findest du nicht? Du bist Mitte zwanzig.“
„Und? Auch wenns teilweise nervt, ist es irgendwie ganz süß. Was hast du in letzter Zeit so gemacht?“
„Ach, viel Arbeit und so. Hast du mal was von Mel gehört?“
Ja, sie telefonierte regelmäßig mit seiner Kusine. Melanie war ihre beste Freundin und vor vielen Jahren einfach von hier fortgezogen. Mick kannte Susann fast genauso lange. Sicherlich wirkte er ein wenig gewöhnungsbedürftig mit seinem etwas eigenwilligen Kleidungsstil und dem leicht ungepflegten Aussehen. Doch das kümmerte sie nicht, schließlich war er einfach nur ein Freund und konnte herumlaufen, wie er wollte. Er war zwar nicht immer zu erreichen, aber er hatte ihr schon ab und zu geholfen. Sehr sogar. Und da er an diesem Abend scheinbar nichts vorhatte, genoss sie es, ihre Zeit mal nicht mit einem Kind zu verbringen, sondern mit einem Erwachsenen.
Bei ihrem derzeit ziemlich vollen Zeitplan kam das nicht so oft vor. Neben der Ausbildung und den vierzehntägigen Therapiestunden machte sie auf Wunsch ihres Bruders auch noch den Führerschein. Ihr graute schon vor der ersten Fahrstunde. Die Theorie war grottenlangweilig und Susann hatte keine Ahnung, wie sie darin jemals eine Prüfung bestehen sollte. Und selber fahren?

„Ich habe gewusst, dass es ein Fehler war!“, beschwerte sich André abends bei Malina.
„Was war ein Fehler?“, fragte sie verwundert.
„Susann hier wohnen zu lassen. Du hättest diesen Typen sehen sollen, der heute hier aufgetaucht ist. Warum ist meine Schwester so dumm? Dem sieht man schon aus einem Kilometer Entfernung den Versager an.“
Er sah seine Freundin verunsichert schlucken und überlegte, ob er das Thema fallen lassen wollte, denn Malina stand auf jeden Fall für Harmonie und Verständnis. Doch mit irgendjemandem musste er darüber reden. „Der war so ungepflegt, bah. Unrasiert, zum Friseur dürfte er auch mal und diese Klamotten! Und er ist definitiv älter als sie. Wahrscheinlich auch älter als ich.“
Sie kam zu ihm und strich ihm sacht über die Brust, was er sehr gut leiden konnte und ihn sofort ein wenig ruhiger werden ließ. „Ich will doch nur nicht, dass sie schon wieder auf die Nase fällt.“
„Ich weiß.“ Malina küsste ihn auf den Mund. „Aber ich fürchte, du kannst nicht viel dagegen machen, mit wem sie sich trifft. Außerdem weißt du doch gar nicht, warum sie sich mit dem Mann getroffen hat. Vielleicht ist er einfach nur ein Freund.“
„Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich glauben soll.“
„Willst du denn, dass sie niemanden kennenlernt? Du weißt, dass sie sich nach einem Mann sehnt.“
Er rümpfte angewidert die Nase. „Iiih, sag das nicht so. Und … natürlich möchte ich nicht, dass sie allein bleibt, aber … oh Gott, ich will die Kerle doch nicht sehen! Ich finde es super, dass Merle hier ist, aber Susann … ich hab keine Ahnung, wie das funktionieren soll.“
„Ihr vertragt euch doch bislang ganz gut.“
André schnaubte. „Ja. Ich denke, bislang haben wir uns beide ziemlich zusammengerissen und uns Mühe gegeben. Aber es sind erst ein paar Monate.“

„Alter, kannst du dich mal entscheiden? Wenn wir heute was essen wollen, sollten wir da langsam mal anrufen“, meckerte sein Kollege.
„Was nehmt ihr noch mal?“, murmelte Joris, während er weiter auf die Karte starrte.
Ungeduldiges Seufzen schlug ihm entgegen, bevor er die Nummern der Baguettes genannt bekam. Er musste sich zusammenreißen und entscheiden. „Okay, ich nehme auch die Acht. Nein, die Zehn.“
„Was denn jetzt“, brummte Chris.
„Die Zehn.“
„Die Zehn. Änderungen sind nicht mehr zugelassen.“ Damit drückte Joris Kollege, der nur wenig älter war als er demonstrativ auf den grünen Hörer und wartete auf das Rufsignal. Als er bestellt und aufgelegt hatte, meinte er abschätzig, „für den ganzen Heckmeck, kannst du es zumindest abholen gehen.“
„Klar.“ Das war für Joris keine Strafe. So kam er wenigstens mal kurz von der Baustelle runter. Allerdings hasste er es, in den schmutzigen Klamotten in Lokale zu gehen. Nur blieb ihm in der Mittagspause nichts anderes übrig.

Normalerweise gönnte Susann es sich nicht, in der Mittagspause etwas Essen zu gehen. Mit ihrem Ausbildungsgehalt, dem Kindergeld und dem bisschen staatliche Unterstützung musste sie haushalten. Doch heute hatte sie nicht schon wieder ablehnen wollen, damit die anderen nicht dachten, sie wäre ein Eigenbrötler. Ab und zu ging sie mit, während zum Beispiel Jessica das Büro beinahe jeden Tag in der Mittagspause verließ, manchmal mit Alexa. Susann machte es sich dann in der Büroküche gemütlich, um ihr Butterbrot zu essen.
„Oh, ich weiß gar nicht, was ich heute nehme“, freute sich Jessica, die sich die Karte des Bistros geschnappt hatte und hineinsah.
Susann, die sich fragte, was ihre dunkelhaarige Kollegin wohl verdiente, zumal sie auch ein Auto besaß, studierte die Karte auf der Suche nach etwas Günstigem, was sie mochte und sie sättigen würde.
Wahnsinn, der Salat war teurer als eine Pizza. Dabei stand ihr der Sinn eher nach etwas Leichtem, sonst konnte sie sich am Ende gar nicht mehr konzentrieren.
„Wollen wir uns die Bruschetta teilen?“, kam es von Jessica, die nicht einmal von der Karte aufsah.
Ein Blick auf die Vorspeisen machte Susann ein zustimmendes Geräusch und entschied sich zusätzlich für ein kleines Baguette.
„Ist dir das nicht zu viel Brot?“, wollte Jessica erstaunt wissen und bestellte einen Salat und eine Ofenkartoffel.
„Oh, ich nehme ebenfalls eine Ofenkartoffel, nicht das Baguette.“ Die schmeckte super mit Quark und war ihr gar nicht aufgefallen.
„Auch den Salat?“, wollte die Kellnerin wissen, doch Susann schüttelte den Kopf.
Als die Bedienung weg war, sah Jessica erwartungsfroh zu ihr rüber. „Und? Dein Bruder ist immer noch mit seiner Freundin zusammen?“
Am liebsten hätte Susann genervt gestöhnt. Ihre Kollegin, die sie eigentlich ganz gern mochte, hatte André ein einziges Mal gesehen und fragte seitdem ständig nach ihm. Was war denn nicht daran zu verstehen, dass er eine Freundin hatte? Und auch ansonsten mochte sie Jessica nicht so gern, dass sie sie als Schwägerin hätte haben wollen. Man musste ja nicht gleich übertreiben. „Sicher. Das wird sich auch so schnell nicht ändern.“
„Verschwendung.“
„Die Zeiten, in denen er ständig andere Frauen hatte, von denen er teilweise nicht mal den Namen wusste, sind zum Glück vorbei. Ich bin froh, dass er endlich eine feste Beziehung hat. Es tut ihm gut.“
„Das passt gar nicht zusammen. Du hast doch gesagt, dass er früher auch schon gut mit Merle konnte. Wenn er da so ein Schwerenöter war …“
„Schwerenöter?“ Der Begriff konnte auch von ihrer Oma stammen. „Tja, auch wenn er gern Party macht, hat er Merle trotzdem lieb. Als sie ganz klein war, hat er zwar mit ihr rumgetüdelt, sie aber nicht mitgenommen, als sie dann laufen konnte, nein, ich glaube, als sie die Windeln weghatte, da hat er angefangen, sie mitzunehmen und mit ihr … ich weiß nicht, was er alles mit ihr gemacht hat. Schwimmen, Spielplatz und so was.“
„Typisch, bloß keine Windeln wechseln.“ Jessica verdrehte ihre Augen.
„Doch, das hat er auch gemacht. Ich glaube, dass sie ihm bloß zu klein war, weil er in dem Alter nicht so viel mit ihr anfangen konnte. Als sie zweieinhalb war, da hat sie auch schon ein bisschen gesprochen und wahrscheinlich ist es dann einfacher.“
„Und wann kriegt er Eigene?“
Mein Gott, war die neugierig. „Keine Ahnung. Ich glaube, er will gar keine Kinder. Und du? Möchtest du welche?“
„Irgendwann. Ich hab ja noch Zeit.“
Stimmte. Jessica war fünfundzwanzig, genau wie sie selbst bald. Nur, dass ihre Tochter gerade ihren siebten Geburtstag gefeiert hatte. Da das Essen kam, blieb es Susann erspart, womöglich schon wieder zu hören wie groß Merle doch bereits war. Sie nahm sich eins der vier Bruschetti und biss genüsslich hinein.
„Guten Appetit“, hörte sie neben sich und verschluckte sich beinahe. Ihr Blick glitt zu dem dunkelblonden Mann hinauf, der sie mit seinem Gruß gerade regelrecht erschreckt hatte.

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